Durchbruch: Holly Herndon – Die neue E-Musik

vor 8 years

Komplizierte Klänge, Stimme aus der Stratosphäre: Die ehemalige Kirchenmusikerin lässt es krachen.

Ich bin mit Holly Herndon im Hotel zum Interview verabredet. Der Konferenzraum ist blockiert, aus allen Ecken der Lobby spielt Musik, also lädt sie mich auf ihr Zimmer ein. Sie entschuldigt sich, dass es so chaotisch sei, weil sie noch Freunde einquartieren musste, die am Tag vorher über die Kleinanzeigen-Website Craigslist auf einen Wohnungsbetrüger reingefallen sind. Wo ist der Fotograf?fragt sie. Der kommt nicht.Ein Missverständnis. Das ist der einzige Moment in dem sie kurz genervt ist. Ich hasse Make-up! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich niemals Make-up benutzt heute Morgen…Sie schaut in den Spiegel und legt die Stirn in Falten. Dann lassen wir uns auf ihr Sofa fallen.

Fräulein: Wie ist die  Musik zu dir gekommen?
Holly Herndon: Ich bin im Süden der USA, in Tennesse aufgewachsen…. (macht eine Pause) Ist das Aufnahmegerät wirklich an?

Ja. Es blinkt.
Ich hatte nämlich letztens ein Interview für NPR (das amerikanische öffentlich-rechtliche New Public Radio), das aus Versehen nicht aufgezeichnet wurde. Und die Interviewerin ist total ausgeflippt, denn es war ein echt langes Interview über eine Stunde. Aber was wir nicht wussten: alle Räume dort haben ein automatisches Back-Up. Der Techniker ist zu einem ominösen Server gegangen – da hatten wir es wieder! Zum Glück. Aber das ist auch unheimlich.

 Also zurück nach Tennesse…
Mein erster Kontakt mit Musik war es gemeinsam mit meiner Familie Country-Musik zu hören. Und musiziert habe ich zum ersten Mal in der Kirche – Kirchenchor, Gitarrenunterricht, Kirchenlieder am Klavier.

Das spürt man noch in deiner Musik, zum Beispiel in den Chorälen …
Ja, ich komponiere gerne Choräle und mag simple Melodien, simple Harmoniestrukturen. Es gibt eine Euphorie in den Songs, die ich schreibe, die von einem kirchlichen Einfluss herrührt. Ich habe auf jeden Fall eine Verbindung zu religiöser und Trance-Musik, daraus ziehe ich wohl so ein ekstatisches Moment.

Wie kamst du auf die Idee nach Berlin zu ziehen?
Ich war mit 16 das erste Mal als Austauschschülerin für einen Sommer in Berlin, wo ich mit einer polnischen Familie in Neukölln gewohnt habe. Es war total verrückt für mich, eine ganz neue Erfahrung: die Mutter der Familie hatte unrasierte Achselhaare und Beinhaare. Wenn man aus den USA kommt, ist das ein Schock. Aber diese Frau hatte so ein sexuelles Selbstbewusstsein, komplett anders als das Selbstverständnis der Frauen aus dem Süden der USA, die ich kannte. Sie hatte diese rohe Sexualität. Sie trug keinen BH, sie kleidete sich im 80er Jahre-Stil, aber mit so einem verführerischen Selbstbewusstsein. Das war sehr spannend für mich damals, dieses Frauenbild. Wir sind damals zum Beispiel zur polnischen Grenze gefahren und haben billige Zigaretten gekauft. (Holly lacht laut und herzlich). Wir haben Fake-Adidas-Zeug gekauft und ein paar Euro-Dance-Mix-CDs. So bin unter anderem auf „Blümchen“ gestoßen! Diese Zeit hat mir irgendwie die Augen geöffnet. Ich habe dann später fünf Jahre in Berlin gelebt.

Wie sah dein Leben damals aus?
Ich war ein „Club-Kid“. Ich habe kaum das Tageslicht gesehen. Ich war der totale Raver, habe in Clubs gearbeitet und alle meine Freunde auch. Das ging so ein bis zwei Jahre lang. Dann habe ich angefangen, für ein Start-Up zu arbeiten, die eine Musik-Datenbank betrieben. Ich habe Musik mit Schlagworten versehen und in Kategorien gesteckt, und Musik in Werbung platziert. Firmen haben uns Spots geschickt, und wir mussten dann dafür einen Song finden. Das war schrecklich! Das war nur Quantität anstatt Qualität. Ich hatte dann erst überlegt an der Universität der Künste Komposition zu studieren, bin dann aber ans Mills College, dieses wunderbar experimentelle Hippie-Programm, wo ich dann Electronic Music and Recording Media studiert habe. Das Mills College existiert seit den 70ern. Da unterrichten Leute wie Fred Frith (Avantgarde-Musiker), Maggie Payne (Komponistin, Flötistin) und Roscoe Mitchell (Jazz-Saxofonist).

(Holly deutet lachend auf das Cover eines aktuellen WIRE-Magazins, auf dem Mitchell mit riesiger Sonnenbrille abgebildet ist) Den hätte ich auch gerne als Lehrer…
Ha, ja er ist großartig! Er ist Teil des AACM. Als ich an Platform gearbeitet habe, musste ich oft an die denken. Das AACM, gegründet in den 60ern, ist ein Kollektiv aus Musikern, die einfach nicht die gleichen Möglichkeiten hatten wie andere zu ihrer Zeit. Aber anstatt sich zu beschweren, haben sie einfach ihre eigene Infrastruktur aufgebaut. Und sich gefragt, was können wir anders machen? Mittlerweile gibt es eine große Institution, wo sie Kinder unterrichten und Stipendien vergeben. Ich finde das sehr inspirierend, wie sie das alles aus dem Nichts aufgebaut haben. Denn manchmal vergessen Musiker, dass sie auch handlungsfähig sind. Man muss nicht auf ein staatliches Stipendium warten!.Und wir müssen nicht auf irgendwas aus dem Silicon Valley warten. Wir können das selbst in die Hand nehmen.

Arbeitest du auch in Netzwerken? Hast du Erfahrungen mit kollektiven Strukturen? Oder  entsteht gerade eine Netzwerk-Struktur um dich herum?
Ja, ich versuche es. Platform war der erste Schritt in diese Richtung. Mit Leuten an dem Album zusammenzuarbeiten, die ähnlich fühlen.

Du hast auch in deinem Konzert im Berghain verschiedene Leute mit einbezogen. Amnesia Scanner, AGF, Claire Tolan, die auch auf deinem Album zu hören sind.
Es war ein multi-mediales Event, auf dem zwischendurch auch das Licht anging, und der amerikanische Internetaktivist Jacob Appelbaum ein Manifest vortrug: Befreit Chelsea Manning! Schützt eure Daten! Misstraut der Regierung! Das war wie ein Familien-Konzert. Wir haben da zum ersten Mal versucht mit dem Community Gedanken zu experimentieren. Alle anderen Künstler, die ich eingeladen hatte, waren entweder Mitarbeiter (des Albums) oder haben politische Überschneidungen mit mir. Das fühlte sich gestern an wie der erste Schritt zu Reclaim the Club. Etwas zu kreieren, was nicht einfach nur eskapistisch ist.

Musik und Politik sind für Holly eins, der Club ein phantastischer Ort um nach Jahren der Innerlichkeit über eine klassenlose Gesellschaft nachzudenken, in dem digitale und physische Realität eins werden. 

Dabei ging es vor allem um Datenschutz-Politik und Menschenrechte. Du hast ein T-Shirt auf der Bühne getragen mit dem Bild von Chelsea Manning. Und man konnte die Free Chelsea Manning Shirts auch kaufen
Wir haben damit Fundraising für Manning gemacht.

Und Jacob Appelbaum, amerikanischer Internet-Aktivist und Wiki-Leaks-Vertreter, der gerade im Berliner Exil lebt, hat zwischen deinen Songs ein Manifest vorgetragen.
Ich habe gerade mit einer Journalistin, die eine Generation älter als ich ist, darüber gesprochen, dass der Club in den 90er Jahren ein sehr politischer Ort war. Und über die Desillusionierung, dass es jetzt nur noch um Drogen und Eskapismus geht. Ich will das gar nicht verurteilen. Aber ich denke, dass der Club mehr sein kann. Es war ja früher ein ganz progressiver Ort, wie die Chicago House Szene in den Achtzigern wo die Schwulen ihren safe space hatten und Hautfarbe keine Rolle spielte. Wenn der Club dieser phantastische Ort sein kann, kann er dann nicht auch mit Politik und progressiven Gedanken aufgeladen werden? Wir haben an dem Abend auf der Veranstaltung als Jacob Appelbaum gesprochen hat, das Licht angemacht. Und er hat gesagt: Schau die Person an, die neben dir steht! Erkenne sie!

War es Absicht, dass er lediglich über ein einfaches Mikro gesprochen hat? Deine Stimme wurde ja immer digital gefiltert.
Ich wollte, dass seine Worte kristallklar sind, wollte seine Stimme deswegen auch nicht bearbeiten. Wenn ich meine Stimme beim Singen manipuliere, geht es mehr um Ästhetik, darum meine digitale und physische Welt nahtlos zusammenzubringen. Der Vortrag von Jacob sollte unmissverständlich sein. Bevor er auf die Bühne gegangen ist, habe ich ihn gefragt, ob er ein Bier möchte. Aber er wollte keins. Weil er kein getrübtes Bewusstsein haben wollte, wenn er über die Freiheit von anderen Menschen redet. Das fand ich ziemlich cool!

Es gibt ja Überschneidungen mit der Hacker-Kultur, ästhetisch und programmatisch, bei deinem Programm. Wie kam es dazu, dass du dich für digitale Rechtsfragen einsetzt und das Politische integrierst?
Es hat viel damit zu tun, dass ich aus dieser Szene komme. Nachdem ich in Berlin gelebt habe, bin ich nach Kalifornien gezogen, in die Nähe des Silicon Valley. Die ist extrem technologisch ausgerichtet, aber umfasst auch Hacker und Do-it-yourself Gruppen. Es ist nicht alles Google und Twitter. Und da komme ich her. Ich programmiere ja auch meine Patches selbst.

Ich habe gestern Abend jemanden getroffen, der auch viel mit der Tech-Kultur zu tun hat, insbesondere Life Extension und Transhumanismus. Er hat mir mit glänzenden Augen davon erzählt, dass man durch Technologie alle Probleme lösen könne. Er hatte etwas extrem Missionarisches. Und da musste ich daran denken, dass du mal in einem Interview gesagt hast, dass du nichts davon hältst, wenn Leute sich in einen Vergangenheitseskapismus in der Musik flüchten. Dieser Typ machte genau das Gegenteil: er verzog sich in einem über-positivistischen Zukunftseskapismus. Wo man davon ausgeht, dass der Mensch nur eine Art Computer ist. Er hielt jeden, der nicht 500 Jahre alt werden wolle und Coca Cola trinkt und nicht zu 100 Prozent positiv denkt, für verrückt.
Eskapismus kann in beide Richtungen ausschlagen. Eben auch in diese extreme Simplifizierung sehr komplexer Probleme. Wo Leute versuchen ein Problem durch Technologie zu lösen, und in der Zwischenzeit haben sie fünf neue Probleme schaffen, weil sie nicht das Ganze sehen.

Hast du Angst vor der Zukunft?
Ich habe keine Angst vor der Zukunft und ich mache auch keine Musik, die wie die Zukunft klingt, sondern wie das Jahr 2015. Ich versuche die Gefühle und Themen der Gegenwart mittels einer Ästhetik und Werkzeugen aus dieser Gegenwart zu verarbeiten. Wenn ich von Zukunft rede, geht es niemals über die Sehnsucht, in der Zukunft zu sein, sondern darum, dass wir die Möglichkeit haben Zukunft zu gestalten. Es geht darum, aufzuwachen und aktiv zu werden.

Ich habe irgendwo gelesen, dass du deine Kamera am Computer abklebst.
Ja, ich bin ziemlich paranoid. Wenn man über diese Themen redet und sich mit Leuten umgibt, die auf der Liste stehen, wie Jacob, dann zieht man auch die Aufmerksamkeit auf sich. Ich benutze für manche Interaktionen mittlerweile PGP (Pretty Good Privacy, ein Programm zur Verschlüsselung von Daten). Das ist ein großer Schritt für mich. Ich habe bisher eher die anonyme Perspektive genossen. Jetzt bin ich in den Kreis der Leute gewechselt, die beobachtet werden.

Holly Herndons Musik ist zwar konzeptuell aufgebaut, aber voller Emotionen, mit Schichten von eigens prozessierten feinen Patches (Sequenzen von Einstellungen und Effekten), getrieben von einem moderaten Clubmusik-Tempo, getragen von pulsierenden Bässen und elegischen Chorälen und Stimmmodulationen. Wenn man die Augen schließt, meint man manchmal, Kirchenmusik aus dem 80er-Jahre-Science-Fiction-Film Blade Runner zu hören.

Würdest du Musik aufteilen in tröstende versus politische Musik?
Nein, auf keinen Fall. Das muss nicht getrennt werden. Ich denke, dass Politik etwas sehr Emotionales ist. Es gibt einen britischen Wirtschaftswissenschaftler namens Guy Standing, ein großer Verfechter für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Er redet viel von den sogenannten Paradise Politics. Der rechte Flügel bekommt es meistens gut hin eine Utopie zu formulieren und der Linke scheitert daran. Ich denke, darin kann Musik gut sein: etwas Paradiesisches, Euphorisches und gleichzeitig Politisches zu erschaffen. Es gibt diese bekannte Schriftstellerin, die sagt: Ich möchte nicht Teil einer Revolution sein, auf der ich nicht tanzen kann. Und der Musiker Jam City redet darüber, dass er die Gender-Dynamik in Clubs nicht mag, er findet sie frauenfeindlich. Und er möchte nicht Teil einer Kultur sein, deren Werte er nicht teilt. Ich stehe damit nicht alleine da. Künstler füllen Orte mit Inhalten. Und wir können die Abende in den Clubs formen! Wir haben viel mehr Macht, als wir uns manchmal zugestehen.

Und welche Rolle nimmt die Live-Performance dabei für dich ein?
Worin Musik wirklich gut ist: sie versammelt einen Haufen Fremder in einem Raum. Sie dramatisiert und lässt Emotionalität zu. Leute verbinden sich miteinander. Sie finden sich. Ich bin sehr froh darüber, dass in meinem Publikum so viele intelligente, spannende Menschen sind.

Das hat man gespürt an diesem Abend.
Ja, die ganze Hitze liegt im Raum, im Publikum. Ich will, dass sich Leute treffen und verbinden und zusammen etwas erschaffen. Und ein ganz pragmatischer Grund von Auftritten ist natürlich auch,  Geld zu verdienen. Mit Plattenverkäufen verdient man nichts mehr.

Und wie wichtig ist der reale Körper? Du arbeitest viel mit deiner Stimme, hast du manchmal Angst deinen Körper an einen Computer zu verlieren?
Ich habe letztes Jahr angefangen, den Körper mehr einzubeziehen. Ich habe mit einem Tänzer gearbeitet, seine Bewegungen im Raum aufgenommen und daraus ein Ambi-Sonic-Multi-Channel-Piece gemacht. Mit der Stimme oder einem Körper kann das Publikum sofort mitfühlen. Ich möchte einfach das Physische und das Digitale ineinander fallen lassen, denn ich verstehe sie als integrierte Sphären. Ich habe mal mit Hannes Grassegger ein Projekt zusammen für DIS realisiert, wo Hannes darüber spricht, dass auch der digitale Körper Rechte braucht. Unsere digitalen Avatare sind jetzt schon Teil unseres emotionalen Lebens, auch wenn sie unser physisches Selbst nicht zu hundert Prozent repräsentieren, sind sie total repräsentativ für unser emotionales Selbst. Ich habe aber keine Angst vor einer Cyborg-Gone-Wrong-Situation. Ich glaube, wir kreieren diese falsche Dualität und sehen dadurch die Nuancen nicht mehr, mit denen wir eigentlich arbeiten sollten.

Ist Stimme = Bits ?
(Lacht) Na ja, es ist eben beides. Sie kommt aus dem Kehlkopf und wird dann zu Bits. Musik ist voller Facetten, ich bin eine Multi-Facetten-Persönlichkeit und alles verändert sich jeden Tag.

Info:
Holly Herndon reist ohne festen Wohnsitz von Auftritt zu Auftritt, ihr wichtigster Begleiter ist der Laptop. Ihre religiöse Vergangenheit, Musikinstrumente und Plattensammlung hat sie hinter sich gelassen. Für sie zählt nur das Jetzt. Platform, so schreiben die Kritiker, ist das einzige Album von 2015 das klingt wie 2015.

Interview: Julia Zange
Foto: Bennet Perez

Dieser Beitrag stammt aus der Fräulein 1/2016.

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