Ihre viralen Gedichte sind kurz und schlicht, aber nicht minder mächtig.
Kometenhafte Selbstheilung: Rupi Kaur’s Instapoetry
Für Millionen betreiben sie solidarische Schmerzbewältigung und vor allem Women of Color identifizieren sich mit Kaurs Stimme zu „Love. Loss. Trauma. Healing. Feminity. Migration. Revolution.“ – Über die erfolgreichste Instapoetin unserer Gegenwart.
Seit Jahren rede ich mir ein, an diesem Punkt meines Lebens einfach „keine Zeit“ für lange Prosa zu haben – „genug“ geht schon für akademische Wälzer drauf. Meine Ausrede wird auch nicht mehr viel konkreter, aber wenigstens ist sie mir so sehr als Ausrede bewusst, dass ich immer versucht habe, das Defizit zumindest alternativ zu kompensieren: mit knappen, dafür unmittelbareren Gedichten. Inzwischen könnte ich in lange Monologe darüber verfallen, welche Autor*innen mich mit welchen Mitteln innerhalb weniger Zeilen berühren können – und ein Name, auf den ich letzten Herbst gestoßen bin, ein Name, auf den man in der Szene gegenwärtig unabdingbar stoßen muss, ist der der punjabischen und in Toronto lebenden Dichterin Rupi Kaur.
Kaurs Zeilen zünden auf der ganzen Welt. Wie sie zu ihrem – für zeitgenössische Dichtung außergewöhnlichen – Erfolg gekommen ist, erklärt sich logisch: ihr Medium ist ihr Instagramfeed, welcher 2015 viral gegangen ist, als sie gegen die Verbannung eines ihrer Bilder plädierte, auf dem Menstruationsblut abgebildet war. Mit aktuell 1,7 Millionen Followern ist Kaur die Sichtbarste in jenem Strom an jungen Autor*innen, die über Instagram, Twitter oder Tumblr publizieren und stetig an Relevanz gewinnen. Sie alle haben eine neue Ära des Schreibens, Publizierens und Lesens eingeläutet; sie alle schreiben ähnlich kurz, direkt und konfessionell – ein Produkt nicht nur für, sondern vielmehr von Social Media, dessen Erfolg vor allem auch in einer sofort verdaulichen, universellen Ausdrucksweise wurzelt. Viele finden sich irgendwo in diesen emotionalen Zeilen über Illusion und Desillusion, kollektives und persönliches Trauma wieder – behandelte Schmerzquellen sind etwa verlorene Liebe, aber auch Migration, Rassismus und häusliche Gewalt – die Unverfrorenheit dahinter trifft auf immensen Widerhall.
Kaurs Verse brauchen nicht neu, innovativ oder komplex sein; sie liefern in unserer Zeit wohl genau das, was die Leser*innen brauchen: ihre Symbolik ist maximal einfach zu entziffern; der Emotionsschwall, den sie auslösen, klar und rein; ein gewisser Überraschungseffekt trotz allem (oder gerade deswegen) da – eine Wirkung wie die von Kometenschauern, oder entfernt zündenden Feuerwerkskörpern. Kurze Knalle, die zu Quellen der Einsicht, Katharsis, Hoffnung und des solidarischen Verständnisses werden können.
Text: Dieu Linh Nguyen Xuan
Bilder: PR/Instagram