Rot ist die Farbe der Revolution

vor 4 years

Frauen die roten Lippenstift tragen werden gerne belächelt.

Doch der Lipstick Feminism ist so alt wie die Frauenbewegung. Viva La Glam!

Ich muss etwas elf Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal knallroten Lippenstift trug. Er fiel mir in die Hände, als ich während eines langweiligen Sommerferiennachmittags den Badezimmerschrank im Haus meiner Tante durchsuchte. Ich kann mich nicht mehr an die Marke erinnern, aber der Lippenstift steckt in einer schweren goldfarbenen Hülle, roch nach Margarine und tendierte farblich leicht in Richtung Koralle, wie es in den 1980er-Jahren gerade Mode war. Fasziniert betrachtete ich mein Werk im dreiteiligen Spiegel über dem Waschbecken: ich fand, dass ich aussah wie eine Frau. Eine schöne Frau auf dem Cover eines Magazins. Aber mein eigenes Bild, das auf einmal so fremd wirkte, erschreckte mich auch. Die Farbe wirkte zu grell, zu aggressiv-erotisch für mein Kindergesicht. Schamesröte stieg mir in die Wangen, hastig wischte ich den Lippenstift wieder ab und lief in den Garten, als wäre nichts geschehen. An diesem Nachmittag habe ich gelernt, dass roter Lippenstift nichts für kleine Mädchen ist, die spielen wollen, sondern für erwachsene Frauen, die es ernst meinen. Der Lippenstift wurde vor etwa 150 Jahren erfunden, und es ist noch immer das meistverkaufte Kosmetikprodukt der Welt. Aber schon lange bevor massenproduzierte Lippenstifte in den Glasvitrinen der Kaufhäuser lagen, tauschten Frauen Tipps für Pasten und Tinkturen aus, die ihren Lippen den begehrten roten Farbton verliehen – was bei den Hütern von Sitte und Moral gar nicht gut ankam. 1770 erließ das britische Parlament ein Gesetz gegen das Lippenrot und setzte fest, dass Frauen, die einen Mann mit dessen Hilfe zur Eheschließung verführt hatten, der Hexerei angeklagt werden konnten. Das Hannoversche Intelligenzblatt schrieb etwa zur gleichen Zeit, das ,,Anlegen der rothen Schönfarbe” beförderte die natürliche Neigung des Weibs zum Lasterhaften, zu Maßlosigkeit und Verschwendung. Ein perfekter Werbeclaim.

Als die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt Ende des 19. Jahrhunderts die Angewohnheit kultivierte, ihren Lippenstift mit Hilfe eines Taschenspiegels in der Öffentlichkeit aufzutragen, sorgte das für einen Riesenskandal. Ein Lippenstift-Gate. Diese Beispiele zeigen, dass roter Lippenstift noch nit etwas war, das Frauen trugen, um Männern zu gefallen. Roter Lippenstift war ein Code, der bedeutete: ihr könnt mir mit euren Benimmregeln den Buckel runterrutschen. Ich mache, was ich will. Das Lippenrot war eher ein Punkstatement als eine Schönheitsmaßnahme. Als die Suffragetten im März 1913 den ersten Women’s March on Washington organisierten, bei dem Tausende Frauen das Wahlrecht forderten (und später auch bekamen), trugen Sie roten Lippenstift als Symbol der Revolution und Selbstbestimmung. Elizabeth Arden, eine frühe Geschäftsfrau, die sich gerade mit ihrem Kosmetikbusiness selbstständig gemacht hatte, marschierte mit und versorgte ihre Schwestern mit kostenlosen Proben ihres Lippenstifts im heute ikonischen Farbton Red Door. Roter Lippenstift sagt: mit mir muss gerechnet werden. Ich bin hier und habe nicht vor, bald wieder zu gehen. Deshalb ist er das perfekte Accessoire für Frauen in Machtpositionen. Theoretisch. Tatsächlich empfehlen Stilratgeber in Frauenmagazinen meist, zu wichtigen Businessterminen lieber aus zarte Rosa- oder Nudetöne auszuweichen. Von Frauen in Machtpositionen wird erwartet, dass sie ihre Weiblichkeit herunterspielen, weil sie sich sonst gleich zweifach angreifbar machen: Erstens könnte man auf die Idee kommen, dass ein Schminkpüppchen nicht kompetent genug für einen anspruchsvollen Job sei. Und zweitens könnte man ihr selbst im Erfolgsfall immer noch vorwerfen, ihre Position nur durch die unmoralische Manipulation ihres Äußeren erreicht zu haben. Es ist unfair, dass Frauen dauernd darüber nachdenken müssen, wie sie aussehen und wie das von anderen ausgelegt werden könnte. Außerdem kostet es wertvolle Zeit, Energie und Geld. Männer in Machtpositionen tragen jeden Tag dasselbe und gelten bereits dann als gepflegt, wenn sie keinen Dreck unter den Fingernägeln und keine Eigeldflecken auf der Krawatte haben. Frauen dagegen müssen tönen, frisieren, zupfen, cremen, abstimmen, kombinieren und noch vieles mehr. Aber am Ende – und das ist der Trick dabei – soll es möglichst so aussehen, als habe diese ganze Schönheitsarbeit gar nicht stattgefunden. Weil man nicht als eitel, gefallsüchtig und oberflächlich gelten möchte.

Sich die Lippen hingebungsvoll in Hautfarbe anzumalen ist ein bisschen so, als würde man nach dem Staubsaugen extra wieder ein paar Krümel verteilen, damit keiner denkt, man habe einen Putzfimmel. Oder als würde man jeden Tag Joggen gehen, sich dabei aber absichtlich langsam bewegen, damit keiner merkt, dass man Sport macht. Es ist der Versuch, den betriebenen Aufwand zu verschleiern. Frauen, die beides wollen, Macht und Glamour, heißen passenderweise Lipstick Feminists. Ihre Vertreterinnen glauben, dass Frauen nur dann wirklich gleichberechtigt sein könne, wenn traditionell weibliche Züge nicht mehr als schwach und unprofessionell betrachtet werden. Für sie ist roter Lippenstift eine Kampfansage – heute wie vor hundert Jahren. Im Herbst 2018 wurde die 28- jährige Aktivistin Alexandria Ocasio-Cortez als jüngste Frau ever in den US-Kongress gewählt. Anschließend war es nicht unter ihrer Würde, auf Twitter die Frage nach ihrem Lieblingslippenstift zu beantworten (Stila Stay All Day Liquid in Beso). Der Farbton war binnen Minuten ausverkauft. Deswegen kritisieren manche Lipstick Feminism würde den Konsumkapitalismus unkritisch abfeiern. Überhaupt sei es ein Armutszeugnis, dass kluge Powerfrauen wie Ocasio-Cortez immer noch eher wegen ihres Aussehens Schlagzeilen machten, als wegen ihrer politischen Aussagen. Natürlich muss keine Frau roten Lippenstift tragen. Aber denen die gerne würdenund sich vielleicht nicht trauen, sollte man Mut machen. Roter Lippenstift ist ein klares Bekenntnis zu Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Er bedeutet sich in eine Reihe zu stellen mit historischen Frauen, die viel bewegt haben. Einer Bewegung Respekt zu zollen, die dafür verantwortlich ist, dass es für Frauen heute viel einfacher ist, in Machtpositionen zu gelangen.

Wer schon beim Shopping ein gutes Gewissen haben möchte, Kauft sich den Mac Viva Glam (am besten in der Farbe I). Der gesamte wird für die Aidshilfe gestiftet. In den letzten 25 Jahren kamen so mehr als 400 Millionen Dollar zusammen. Was die Geschichte der Menschheit betrifft, sind hundert Jahre nur ein winziger Augenblick. Frauen in Machtpositionen sind für viele immer noch gewöhnungsbedürftig. Nicht zuletzt für die Frauen selbst, die sich mit Kleidervorschriften und Stilcodes herumplagen müssen, die Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten sind. Deshalb ist es für Frauen auch so schwer, den richtigen Look für eine Führungsposition zu finden, denn sie waren für diese Rolle ursprünglich einfach nicht vorgesehen. Natürlich sind blöde Sprüche über das Aussehen eine ganz billige Taktik, um Frauen zu verunsichern und Stimmung gegen sie zu machen. Man kann sich dafür entscheiden, es auszusitzen. Wie Angela Merkel es getan hat: irgendwann waren alle Witze über ihre Mundwinkel gemacht und man konnte sich gewinnbringenderen Themen zuwenden. Man kann den Stier aber auch bei den Hörnern packen. Eine Frau, die mit knallroten Lippen zum Businessmeeting erscheint, traut sich was. Sie zeigt damit, dass sie keine Angst hat aufzufallen. Und fast noch wichtiger: sie hat auch keine Angst davor, als Frau in eine Schublade mit der Aufschrift ,,doof” gesteckt zu werden. Führungsqualitäten fangen nämlich immer noch damit an, sich selbst etwas zuzutrauen.

Bilder: Arcin Sagdic

Text: Diana Weis

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