Oh, diese blutroten Lippen

vor 5 years

Ein Auszug aus unserem aktuellen Heft “Märchen”.

In einem Raum aus Moos und liebkosenden Wänden gibt sich Eden sieben Liebhabern hin. Ein modernes Märchen, das uns vor lauter Sinnlichkeit erzittern lässt. Und Tütensuppe gibt es auch.

„Wir suchen dich“, schrieb einer aus dem Nichts. „Wer seid ihr?“, antwortete Eden. „Wir sind sieben. Kommst du und machst aus uns eine Acht?“ Es war mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel. Im Innenhof fegte jemand die Flocken zu Häufchen, die den Kiesweg vom Eingangstor bis zum Treppenaufgang säumten wie Topfkuchen. Eden saß auf der Küchenfensterbank und schaute abwechselnd auf den Hofboden und den mit anthrazitfarbener Kuvertüre überzogenen Nachmittagshimmel. Eden hielt ihr Handy in Hand, dessen Bildschirm im Fenster reflektierte. „Kommst du und machst aus uns eine Acht?“, flüsterte sie mehrmals in ihre Küche hinein und fragte sich, ob ein Samstag der richtige Tag für ein polyamores Erlebnis sei. Die Uhr an ihrem Herd zeigte kurz vor vier an. Sie wusste, dass es Zeit war, letzte Einkäufe vor dem Wochenende zu erledigen. Doch sie rang mit sich, ihrem knurrenden Magen und der Idee, drei Tage und drei Nächte auf ihrem Sofa zu verbringen. Mit nichts als Tütensuppen und ihrem Handy, das ihr Abenteuer aus Worten ermöglichte und gleichermaßen jene Distanz bot, die sie brauchte. In der Kammer suchte sie nach den Papiertüten, die beim Schütteln knistern wie Kinderinstrumente, doch sie fand lediglich eine Hochzeitssuppe, deren Ablaufdatum drei Jahre zurücklag. „Gut, es hilft nichts“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, vor dem sie ihr Haar zu einem Knoten auf dem Hinterkopf auftürmte. Normalerweise schminkte sie sich nicht, doch während sie in der Handtasche nach ihrem Geldbeutel suchte, fand sie blutroten Lippenstift und ein Blättchen, kaum größer als die Ecke einer Briefmarke. „Perfekt“, tönte es in ihren Gedanken. So trug sie den Lippenstift auf, streckte ihre Zunge dem Spiegel im goldenen Rahmen entgegen und legte sich den Hauch von Nichts auf die Zunge. Und je wärmer es in ihr wurde, desto größer wurde der Drang, die fragile Schönheit der Altbauwände zu verlassen. Raus aus der Perfektion, die in ihrem Körper keine Befriedigung, sondern Abstoßen auslöste. Sie musste nicht nur, nein, sie wollte raus. Aus ihrem Hauseingang, über die Straße, um die Ecke, über die Kreuzung, zu den Gestalten und Dämonen der Unterwelt, die sich auf dem Platz tummelten. Dort ging sie hin, mit Prismen vor den Augen. Als hätte sie ihr Kinderspielzeug mit in eine Welt genommen, die für Kinder verboten ist. Edens schneeweiße Haut schimmerte im Neonlicht des Supermarktgangs, während sie Tütensuppe um Tütensuppe in ihre Armbeugen legte. An der Kasse legte sie der Frau Münzen in die nach Pudding duftenden Hände und ging hinaus auf den hässlichsten Platz der Stadt. Er erdete sie, der Wald ohne Bäume, der Wald aus Beton. In diesem Wald sah sie Ärsche über stämmigen Waden, gepresst in Lycra, die ihre Wirte in Plastiktempel trugen. „Schön seid ihr“, schrie sie in die Dunkelheit hinein, aus der niemand „Wir sind schön, aber du Eden, du bist die Schönste im ganzen Land!“ antwortete. „Wir sind weiterhin sieben. Kommst du endlich und machst aus uns eine Acht?“, schrieb er wieder. „Siebengebirgsweg, vierter Stock. Wir machen auf.“ Eden zögerte. Ihre Innereien fühlten sich an, als wären sie in einem Glas Limonade eingelegt. Orangen rollten über den Gehsteig, sie versuchte, ihnen auszuweichen und ging zur nächsten Straßenecke, in Richtung Zuhause, um wieder zurückzurennen. Am Verkehr vorbei, an den Orangen vorbei, vorbei an Riesenrädern aus Wunderkerzen, zum Siebengebirgsweg. Wo die Tür leise summte, als sie atemlos an deren Absatz stand. Sie wurde von sieben Gesichtern empfangen, deren Augen, Münder und Nasen ein Puzzle bildeten. Arme umschlangen sie, liebkosten ihre Wangen, streichelten ihr Haar. Und Finger fuhren über ihre Lippen. Ein Hase, oder auch nicht, nahm ihr vorsichtig die Tüte mit den Tütensuppen aus der Hand und zog ihr den Mantel aus. „Du bist tausendmal schöner, Eden.“ „Tausendmal schöner als wer?“ „Tausendmal sch.ner als du!“, sagte er. Sie schaute sich wortlos um und folgte der sich Menschenmenge in einen großen Raum. Mit ihren nackten Füßen berührte sie das warme Moos, das über den Boden wucherte. Es roch köstlich und Eden schien noch nie an einem intensiveren Ort gewesen zu sein. Einer, der sich als Tom ausgab, stellte Eden seine Sieben vor. Ein Specht, ein Bär, ein Reh und drei Hasen, es hätten jedoch auch drei Männer und vier Frauen gewesen sein können. „Leg dich zu uns, Eden“, bat eine zarte Frauenstimme. Eden zählte sieben Matratzen, sieben Decken und sieben, über den Decken und Matratzen hängenden Spiegeln in diesem Raum, der sich nach nichts mehr sehnte als nach einer Acht für die Nacht. „Wer hat aus meinem Glas getrunken?“, rief ein anderer aus einer anderen Ecke, der sein Kristallglas umdrehte und es über den moosigen Boden hielt. Ein Tropfen Wein fiel ins Grün und Eden beobachtete, wie eine Rose aus dem Tropfen erwuchs. „Wer hat von meinem Apfel gegessen?“, entgegnete eine hell, die auf dem nun nachgebenden Moos nackt von der einen auf die andere Seite des Raumes hüpfte. Eden saß im Schneidersitz an eine der Wände gelehnt, deren Tapeten sich lösten und sich wie eine Wolldecke um ihre Schultern legten, und lächelte ungläubig. „Wer wird ihre blutroten Lippen küssen?“ „Wer wird ihr ebenholzschwarzes Haar kämmen?“ „Wer wird über ihre schneeweiße Haut streicheln?“ Hysterie, orangefarbene Hysterie der sich liebenden, fragenden und hüpfenden Gruppe fremder Wesen tanzte vor Edens Stirn, nahm sie an die Hand und führte sie zu einem bärigen Kerl, dessen Matratze unter den Fenstern lag. „Machst du nun aus uns eine Acht?“, fragte er in den Raum hinein. Und es wurde still. Und Eden erkannte in jenem Moment, indem sie über seinen mit Pelz bewachsenen Arm strich und noch nie etwas Weicheres gespürt hatte, dass dieser Raum aus Moos und wachen Wänden, der nun auch ihrer war, nicht eine Kante zu haben schien. Zum ersten Mal seit Langem, oder seit immer, seit ihrer bewussten Existenz, ließ sie sich fallen. Und sie fiel aus ihren Wänden in vierzehn Arme und ließ sich von seinem Atem beleben. Das Moos piekste in ihren Hintern und erstmals seit Langem, seit immer, oder seit ihrer Existenz sehnte sie sich nach nichts. In einem Raum aus sieben, die Fragen stellen, kehrte Stille ein. Sie waren, und wenn auch nur für eine Nacht, vollkommen wie eine Acht. Sie ließ sich das ebenholzschwarze Haar kämmen, die schneeweiße Haut streicheln und die blutroten Lippen küssen. Es war mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel. Im Innenhof fegte jemand im grauen Mantel die Flocken zu vielen kleinen Haufen, die den Kiesweg vom Eingangstor bis zum Treppenaufgang säumten wie eiskalte Topfkuchen. Sie saßen auf der Küchenfensterbank, auf Stühlen um den Esstisch, und auf der Anrichte. Eden und ihre Sieben schauten abwechselnd auf den wie mit Puderzucker überzogenen Hofboden und den mit anthrazitfarbener Kuvertüre überzogenen Mittagshimmel. Und aßen Hochzeitssuppe aus acht kleinen Schüsseln.

 

Text:
Linda Rachel Sabiers
Dieser Beitrag erschien zuerst in Fräulein-Ausgabe 1/2019

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