Die Schriftstellerin, die rigoros ins Schwarze trifft: Joan Didion

vor 6 years

Die US-amerikanische Schriftstellerin Joan Didion ist wie eine Steinfrucht: teils nachgiebig, aber – ab einem bestimmten Radius – garantiert hart.

Als ich zum ersten Mal „Goodbye To All That“ gelesen habe, fühlte ich mich schuldig. Joan Didion ruft sich in diesem Essay aus dem Jahr 1967 bildreich ihr 20-jähriges Selbst und dessen schleichende Desillusion ins Gedächtnis zurück, angefangen an jenem modrigen Sommertag, an dem sie bemüht gekleidet zum ersten Mal New York betrat. Sie war aus ihrer Heimatstadt Sacramento umgesiedelt und im blendenden Mittelpunkt der Erde angelangt, als mittellose Vogue-Kolumnistin, blutjung, allein, und sich in alles verliebend, was dieser neuen Lebensabschnitt zu bieten hatte. Wobei alles – es dämmerte ihr schon –mehr unwirklich als wirklich war: die Neugier auf „neue Gesichter“; ihr schambedingtes Fieber; das filmisch-verzerrte Zeitgefühl; die Menschen und Situationen, denen sie in Aufzügen, Taxis und chinesischen Wäschereien nachweinte; die Spiele; der Sommerregen. Feeling it.

Joan Didion ist wie eine Steinfrucht: teils nachgiebig, aber – ab einem bestimmten Radius – garantiert hart. Ihre Worte treffen rigoros ins Schwarze. Sie entlarvt uns, sich selbst, und alles, was ihr vor die Augen kommt. Sie scheut nicht zurück. Sie ist on point. Sie ist elegant und auch verblüffend badass. In der gnadenlosen Präzision ihrer Beobachtung und Artikulation ist jene kalte Brise an Überlegenheit verwurzelt, die sie so ikonisch und unnahbar macht.

Ich fühlte mich also schuldig, weil sie in dieser romantischen, verderblichen und selbstinszenierenden Träumerei in „Goodbye To All That“ nicht nur ihre eigene Realität, sondern auch die meine durchschaute und der Effekt mich an Gespräche mit meiner Mutter erinnerte; an den Trotz und die Ohnmacht, wenn ich nicht verstehen wollte, warum etwas Unwirkliches tatsächlich unwirklich und etwas Wertloses tatsächlich wertlos war.

Vielen Anderen, ich bin mir sicher, geht es genauso. Für Didion sind unsere widersprüchlichen Weltanschauungen und unausgesprochenen Fata Morganas ungewöhnlich offensichtlich. Es ist eine Gabe, die sowohl ihre persönlichen Essays – von „Goodbye To All That“ über „On Self-Respect“ bis „On Keeping a Notebook“ – als auch ihren New Journalism – allen voran ihr legendäres Werk „Slouching Towards Bethelehem“ – zu eindringlichen Quellen der Erleuchtung macht. Die sozio-kulturellen, politischen und mythischen Zustände ihrer Zeit hat sie wie kein Anderer konserviert. Ihre Texte lesen sich extrem lebhaft, unmittelbar empathisch und doch höchst distanziert.

Und stilistische Meisterwerke sind sie ohnehin. Jedes ihrer Worte ist da, wo es hingehört; jedes Wort Teil eines klirrend klaren, selbstbewussten wie selbstrechtfertigenden Rhythmus. Eine Autorin bei der Vanity Fair nannte es „cool-bitch chic“: „[a] burn-out cool. A cool that gives off heat“. Ein fatales Cool. Ein zeitloses Cool. Eine absolut zeitlose Frau.

Text: Dieu Linh Nguyen Xuan
Bild: Ullstein Buchverlage

 

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